Hitlers langer Schatten

Vor 80 Jahren, beim «Anschluss» Österreichs, jubelten die Massen auf dem Wiener Heldenplatz den Nazis zu. Über die Geschichte eines bis heute belasteten Ortes.

Von PETER MÜNCH

Zum Heldenplatz in Wien kommt Hugo Brainin nur noch selten. «Ich bin ja schon im 94. Lebensjahr», sagt er, «da gehe ich nicht mehr so viel raus.» Am letzten Sonntag hat er sich dennoch aufgemacht ins Burgtheater nebenan, er sitzt auf dem Podium bei einer Veranstaltung mit dem Titel: «1938–2018: Können wir uns heute auf unsere Demokratie verlassen?» Brainin ist als Zeitzeuge eingeladen. Denn die Ereignisse anno 1938, als Adolf Hitler auf dem Heldenplatz «vor der Geschichte» den Anschluss Österreichs an Nazideutschland verkündete, haben sein Leben entscheidend geprägt.

Wenn Brainin von jenen Tagen spricht, die sich nun zum 80. Mal jähren, dann nennt er sie «die Iden des März». Ums alte Rom und den Mord an Julius Cäsar aber geht es ihm dabei nicht. «Ich sage das wegen Shakespeare», erklärt er, «England ist ja meine zweite Heimat.» Die erste hat er als jüdischer Junge verlassen müssen wegen der Nazis, den deutschen und den österreichischen.

Eine Rückblende also ins Jahr 1938: Am 15. März steht Hitler auf dem Balkon der Hofburg. Die deutschen Truppen waren schon ins Land gerollt, der Führer ist nach Wien geeilt, um «den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich» zu vermelden. Unten auf dem Heldenplatz steht ein Publikum von 250’000, vielleicht 300’000 Menschen.
Die Schätzungen sind umstritten. Unstrittig ist allerdings, dass sie Österreichs Selbstaufgabe frenetisch bejubelt haben. Es ist ein Bild für die Geschichtsbücher, eingebrannt ins kollektive Bewusstsein. Für Hugo Brainin war dies der Schock seines Lebens. Doch auch der Heldenplatz hat sich davon nie erholt.

Wer heute auf dem riesigen Platz vor der Hofburg steht, der kann sich leicht verloren fühlen. Verloren in der Geschichte. Der Heldenplatz ist kein Verweil-, sondern ein Durchgangsort – für Taxis und Fiaker, für chinesische Selfie-Brigaden und die eiligen Bediensteten der umliegenden Regierungsämter. Kaiser Franz Joseph I. hatte grosse Pläne für diesen Platz, ein «Kaiserforum» wollte er errichten. Stückwerk ist das geblieben, statt eines imperialen Forums liegen hier heute, flankiert von den k. u. k. Prunkbauten und dem Burgtor, grüne Parkflächen neben weiss markierten Parkplätzen.

Disneyland für Österreichs Geschichte
Helden immerhin finden sich hier an allen Ecken, aus allen Epochen und für jeden Geschmack. Zentral stehen zur Erinnerung an das Habsburgerreich immer noch die beiden bronzenen Reiterstatuen von Türkenbezwinger Prinz Eugen und von Erzherzog Karl, der Napoleon in der Schlacht von Aspern besiegte. Im Burgtor rechts gibt es seit den Dreissigerjahren ein Denkmal für Österreichs gefallene Soldaten. Links wird all jener gedacht, die im Widerstand gegen die Nazis ihr Leben liessen. 2002 wurde auch noch ein «Denkmal für die Exekutive» enthüllt, das an die im Dienst getöteten Polizisten erinnert. Der Politikwissenschaftler Anton Pelinka hat den Heldenplatz einmal «das Disneyland der österreichischen Geschichte» genannt. Es spiegelt sich in diesem Allerlei die grosse Ratlosigkeit, was man denn nun anfangen soll mit diesem ausufernden und historisch kontaminierten Gelände.

Die letzten Zeitzeugen wie Hugo Brainin sehen den Heldenplatz noch vor sich, als er «bummvoll» war am 15. März 1938. Schon in den Tagen zuvor habe «eine ungeheure Spannung in der Luft gelegen». Brainin war damals 13, die Familie bei einem Onkel zum Abendessen, sie hörten die Radioansprache des österreichischen Kanzlers Kurt Schuschnigg, der am 11. März auf Druck der Nazis seinen Rücktritt erklärte. ‹Gott schütze Österreich›, hat er noch gesagt», erinnert sich Brainin, «dann lief der 2. Satz von Haydns ‹Kaiserquartett›.» Auf dem Heimweg seien dann schon überall die Heil-Hitler-Rufe zu hören gewesen. «Polizisten sind bereits mit der Hakenkreuzbinde am Arm patrouilliert», sagt Brainin. «Wir haben die Deutschen gar nicht gebraucht, wir haben schon genügend Nazis bei uns gehabt.» Sofort begannen auch die Übergriffe auf Juden, nach der Pogromnacht im November 1938 flüchteten die Brainins zu einem Onkel nach London, der dort im Pelzgeschäft tätig war.

In Grossbritannien wurde Hugo Brainin als Flüchtling anerkannt. «Wenn es dort damals solche Gesetze gegeben hätte wie heute bei uns, dann wäre ich wahrscheinlich in Auschwitz gelandet», sagt er, in Anspielung auf die Flüchtlingspolitik Österreichs. In der Hoffnung darauf, dass die Sowjets seine Heimat von den Nazis befreiten, schloss er sich den Kommunisten an. Sofort nach dem Krieg kehrte er nach Wien zurück, um dort den Sozialismus voranzubringen. Rückblickend bekennt er, dass er damals «doppeltes Glück» gehabt habe: «Es ist mir nicht gelungen, den Sozialismus aufzubauen», sagt er, «und ich habe meine Frau kennen gelernt.» Mit Lotte, einer Auschwitz Überlebenden, ist er seit fast 70 Jahren verheiratet.

Leicht ist die Rückkehr nach Wien nicht gewesen. «Es gab genug, die einen Hass auf mich gehabt haben», erinnert er sich: «Ich war ja Kommunist und Jude, was kann man mehr verlangen.» Die alten Naziseilschaften, die Hitler auf dem Heldenplatz zugejubelt hatten, waren schnell wieder aktiv. Bei der Arbeit sind sie ihm und seiner Frau begegnet, auf der Strasse und in den höchsten Ämtern der Politik. «Aber wir haben uns nie als Opfer gesehen, sondern als aktive Gegner», erklärt er. «So fühlen wir uns bis heute.»

Ein Skandal wird zum Klassiker
Bis heute währt auch die Diskussion darüber, wie Österreich mit seinem historischen Erbe umgehen soll, und oft genug wird diese Debatte am Heldenplatz festgemacht. Die Jubelbilder gelten schliesslich als Gegenbeweis für die gern gewählte Lesart, dass Österreich das erste Opfer Hitlers gewesen sei. Davon handelt auch Thomas Bernhards «Heldenplatz»-Drama von 1988. Diese im Burgtheater uraufgeführte Abrechnung mit Österreich zum 50. Jahrestag des Anschlusses ist heute fast ein Klassiker, damals war sie ein Skandal. «Der Judenhass», so heisst es im Stück etwa, «ist die reinste, die absolut unverfälschte Natur des Österreichers.»

Die Reaktionen: Der damalige Bundespräsident Kurt Waldheim, auch ein Mann mit NS-Vergangenheit, warf Bernhard eine «grobe Beleidigung des österreichischen Volkes» vor, FPÖ-Chef Jörg Haider forderte die Ausweisung des Burgtheater-Direktors. Im Premierenpublikum stand pöbelnd und pfeifend ein Jüngling, der heute Österreichs Vizekanzler ist: Heinz-Christian Strache.

Oliver Rathkolb schlägt in seinem Professorenbüro in der Wiener Universität eines seiner Werke auf, in dem er das Strache-Foto aus dem Burgtheater veröffentlicht hat. Die Debatte um das «Heldenplatz»-Stück gilt schliesslich als einer der Meilensteine der österreichischen Geschichtsaufarbeitung. «Heute kann man fast keinen mehr aufregen», sagt der Historiker: «So viele Tabus sind schon gebrochen, dass bis zu einem gewissen Grad alle abgestumpft sind.» Rathkolb aber ist einer von denen, die sich mit Abgestumpftheit niemals abfinden. Er treibt die Diskussion um Österreichs Vergangenheitsbewältigung voran.

Wenn es nach Rathkolb geht, braucht Österreich keinen Heldenplatz mehr, sondern einen «Platz der Demokratie». Der neue Name soll eine Art Beitrag zur politischen Bildung sein. «Die Bevölkerung hält heute die Demokratie für selbstverständlich oder sieht sie fast als Ballast an», sagt er, «das liegt auch daran, dass wir keine emotionale Bindung dazu haben.» Als sich Rathkolb 2017 für die Umbenennung einsetzte, hatte er aber doch einen kleinen Proteststurm entfacht. Die heute gemeinsam regierenden Vertreter von ÖVP und FPÖ hielten gar nichts von einem neuen Namen für den Heldenplatz, ebenso wie 95 Prozent der eigens befragten Leser der «Kronen Zeitung». Damit war das Thema vom Tisch.

Einen kleinen Trumpf allerdings kann Rathkolb doch noch aus dem Ärmel ziehen. Denn eigentlich, das haben seine Nachforschungen ergeben, heisst der viel zitierte Platz gar nicht Heldenplatz. «Äusserer Burgplatz ist sein ursprünglicher Name», sagt der Historiker, «und bis heute ist er niemals offiziell umbenannt worden.» Lediglich im Volksmund habe sich der Name Heldenplatz eingebürgert.

Jenseits der Namensgebung hat Rathkolb noch reichlich Ideen für eine Neugestaltung des Areals entwickelt, vor allem für ein «Haus der Geschichte Österreichs» direkt am Heldenplatz. Ursprünglich sollte es dafür einen Neubau geben, der den bislang offenen Platz zum Volksgarten hin schliesst. Doch das ist versandet: zu kompliziert, zu teuer. «Es fehlt in Wien und in Österreich die Bereitschaft zu grossen Visionen, zu grossen Plänen», klagt er, «man wurschtelt einfach weiter.» Nun soll das Haus der Geschichte in einem Seitentrakt der Neuen Burg am Heldenplatz entstehen. Gegenüber der ursprünglichen Planung gingen zwei Drittel der Ausstellungsfläche und des Budgets verloren. Die Eröffnung ist für November geplant, wenn wieder ein Jubiläum ansteht: 100 Jahre Republik Österreich.

Vorher aber gilt es noch des Anschlusses vor 80 Jahren zu gedenken, und dazu erklingt auf dem Heldenplatz seit gestern bis November eine Soundinstallation der schottischen Künstlerin Susan Philipsz. Viermal am Tag sind vier Töne aus vier Richtungen zu hören, nicht laut, sondern eher zart und brüchig. Als Kontrapunkt zu Hitlers Rede und dem brüllenden Jubel der Massen. Erinnert wird an jene, die damals zum Schweigen gebracht wurden.

Versuch einer Ehrenrettung
Die erste Antwort auf Hitler hat auf dem Heldenplatz allerdings schon 1992 der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel gegeben. Vor 60’000 Menschen stand er genau dort, wo Hitler einst gesprochen hatte, und rief: «Der Balkon ist nichts. Er ist ein Symbol, mehr nicht. Die Veränderung, die Läuterung, kann nicht vom Balkon kommen. Sie muss von unten kommen.» Im Jahr darauf standen unten dann 250’000 Menschen und demonstrierten mit einem Lichtermeer gegen Fremdenfeindlichkeit und ein von der FPÖ initiiertes Ausländer-Volksbegehren. Als 2000 die FPÖ in die erste schwarz-blaue Regierung geholt wurde, diente wieder der Heldenplatz als Schauplatz für die Massenproteste. Und heute ist es wieder dieser Platz, auf dem gegen die Rechten in der Regierung protestiert wird.

Versucht wird so eine Ehrenrettung für den Heldenplatz, um ihn Hitlers langem Schatten zu entreissen. Hugo Brainin, der Zeitzeuge von 1938, ist mit seiner Frau beim Lichtermeer dabei gewesen und auch bei manch anderem Protest dort. Mittlerweile, im 94. Lebensjahr, mag das Demonstrieren auf dem Heldenplatz für ihn selbst zu anstrengend geworden sein. «Aber unsere Kinder rennen da immer noch hin», sagt er, «das haben sie wohl mit der Muttermilch mitgekriegt.»

© Tages-Anzeiger, 12.03.2018