„Ich hab schon als Kind gewusst: Ich bin Jude, denn als mein Vater starb, mussten mein Bruder und ich jeden Tag Kaddisch sagen, in der Früh und am Abend, ein ganzes Jahr lang. Wehe, wir sind einmal nicht erschienen.
Aber auch, wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich es mitbekommen. Beim Fußballspielen auf der Straße hörte ich oft genug: ‚Saujud. Geh nach Palästina.‘ Das war noch lange vor der Machtergreifung der Nazis.“

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„Am Abend des 11. März 1938, als Schuschnigg zurücktrat, waren wir beieiner Tante in der Glockengasse eingeladen. Wir hörten im Radio: Gott solle jetzt Österreich schützen und dann den langsamen Satz von Haydns Kaiserquartett. Ich glaube, es war den Erwachsenen sofort klar, dass wir nicht in Österreich bleiben können. Als wir dann zu Fuß durch die Leopoldstadt nach Haus gingen, haben überall die Scheiben geklirrt von den eingeschlagenen Auslagen, und die Polizisten sind alle schon mit Hakenkreuzschleifen herumgerannt. Die Menschen waren in dieser Nacht wie verrückt.“

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„Als Hitler am 4. April 1938 nach Wien kam, zur Eröffnung der Ausstellung ‚Der ewige Jude‘ in der Halle des Nordwestbahnhofs, waren überall Girlanden aufgezogen. Die Leute wurden in Lastwägen angekarrt zum Spalierstehen. Die Fenster unserer Wohnung gingen auf den Tabor. Wir haben hinuntergeschaut und gesehen, wie die Massen zusammengetrommelt werden. Da läutet es an der Tür. Draußen steht der Hausbesorger ‚Darf ich bei ihnen obischauen?‘ Wir kennen ihn gut. Er ist ein Arbeiterturner, von Beruf Anstreicher, ein Sozialdemokrat, lieb, immer hilfsbereit. - Klar. Er kommt rein. Es klopft noch einmal an der Tür.
Draußen stehen zwei Uniformierte, ganz in Schwarz, meine ersten SSler. - ‚Ist das eine Judenwohnung?‘
Der Hausbesorger springt herbei, beruhigt sie; sagt, er sorge dafür, dass nichts hinuntergeworfen werde, die Fenster geschlossen bleiben. Dann ein Aufbrausen. Von Weitem schon hört man ‚Heil, Heil, Heil. Ein Volk. Ein Reich. Ein Führer.‘ Hitler kommt im offenen Mercedes. Hand rauf, Hand runter.
Der Hausmeister steht am Fenster. Plötzlich reißt es ihm den Arm in die Höhe und er schreit selbst: ‚Heil! Heil!‘ Bei zugemachtem Fenster! Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Der psychische Druck war so stark, dass es ihn mitgerissen hat. Das war ihm dann selbst sehr peinlich. Aber so war es. Da hab ich gesehen, wie man sich hüten muss vor den Massen.“

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„In der ‚Kristallnacht‘ am 9. November 1938 waren mein Bruder und ich im Tempel in der Pazmanitengasse. Kaddisch beten für die Mutter. Plötzlich Lärm, die Tür wird eingeschlagen, Männer, Jugendliche brechen durch. Sie stürmten rein, mein Bruder und ich laufen hinten raus. Sie waren besinnungslos und vollkommen enthemmt. Buben, so alt wie wir selbst, sind mit Stöcken bewaffnet alten Männern mit weißen Bärten nachgelaufen und haben auf sie eingeschlagen.“

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„Ich habe mich nie als Opfer gefühlt. Wenn nötig, hab ich kontra gegeben. Ich glaube, ich gehe offen und ehrlich durchs Leben. Man muss einen gewissen Anstand wahren, den Menschen ein Selbstwertgefühl geben. Das ist die Erfahrung eines langen Lebens.“ [1]

 

1. Zeitzeuge Hugo Brainin: „Sich hüten vor den Massen“ von Christa Zöchling, profil.at | 05.04.2018